Im Rausch der Farben
El Chalten macht mich glücklich, bevor wir auch nur annähernd da sind.
Viel Regen, viele Stürme, wenige Sonnenstunden - nicht nur, aber auch das hatte ich im Vorfeld über den Ort gelesen. Die bange Frage lautete also: Würden wir den berühmten Fitz Roy überhaupt zu sehen bekommen? Die Antwort fällt erfreulich aus und wird zudem völlig unerwartet schon während der Fahrt geliefert.
Nur rund 215 Kilometer sind es von El Calafate nach El Chalten. Einst muss die Strecke eine echte Herausforderung gewesen sein, heute ist die schlechte Schotterpiste längst einer Asphaltstraße gewichen, die nicht nur makellos ist, sondern auch wenig befahren.
Die Strecke führt zunächst am Lago Argentino entlang und dann Richtung Norden.
Wir sind noch nicht lange unterwegs, da erspähe ich eine Silhouette am Horizont, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Als der Groschen fällt, bin ich ganz aufgeregt, denn vor uns - wenn auch noch zig Kilometer entfernt - sehen wir den Gipfel des Fitz Roy in den blauen Himmel ragen. Meine Angst ist so groß, dass er im unbeständigen patagonischen Wetter plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwindet, dass Thomas alle paar Kilometer Fotos machen muss.
Die Befürchtung erweist sich allerdings als unbegründet, denn das Wetter wird immer besser. Auch landschaftlich ist die Fahrt, die erst am Lago Argentino und dann am Lago Viedma entlangführt, eine Sensation.
Der Blick über die Gletscherseen ist spektakulär.
Wir kommen wieder einmal nur langsam voran, denn an den Aussichtspunkten legen wir viele längere Stopps ein und versuchen die Eindrücke in uns aufzusaugen.
Kaum ein anderes Auto begegnet uns auf dem Weg durch die unendliche Weite der patagonischen Steppe: Die Provinz Santa Cruz ist eine der am dünnsten besiedelten Regionen der Welt.
Schließlich führt die Straße schnurstracks auf die Berge zu. Ich platze fast vor Euphorie, schaue rüber zu Thomas und sage nur: "Happy Betti!" Unser Code dafür, dass mein Stimmungsbarometer am obersten Limit angekommen ist - mehr geht nicht.
Kurz vor El Chalten, nach rund dreieinhalbstündiger, gemächlicher Fahrt, sind wir wieder im Los Glaciares Nationalpark - allerdings ein ganzes Stück nördlicher als zuvor bei El Calafate.
El Chalten ist ein kleines Dorf mit nur knapp 2.000 Einwohnern, die im Einklang mit der Natur und vom Tourismus leben. Seine exponierte Lage mitten im Bergmassiv und der direkteste Zugang zum Cerro Torre und Fitz Roy machen den Ort zum Wanderparadies. Fast ausschließlich Individualtouristen und Einheimische, die sich aus bergverliebten Kletterern, Wanderern und Aussteigern zusammensetzen - ich mag die Atmosphäre sofort.
Unser Hotel direkt am Ortseingang ist schnell gefunden, uns gefällt der rustikale, urige Stil mit viel Holz und gemütlicher Sofaecke im Erdgeschoss. Sie erweist sich in den nächsten Tagen - ähnlich wie Lagerfeuer in den Camps in Afrika - als sozialer Treffpunkt, hier kommen wir abends mit den anderen Gästen ins Gespräch und erhalten manch wertvollen Tipp.
Am frühen Nachmittag nehmen wir eine ersten kleine Wanderung in Angriff, die unweit unseres Hotels am Besucherzentrum startet. Sie ist nur wenige Kilometer lang und führt zu zwei Aussichtspunkten. Das Wetter ist weiterhin so gut, dass wir vom "Mirador Los Condores" nicht nur die namensgebenden Andenkondore vor den Granitfelsen des Fitz Roy beobachten können, ...
... sondern sich sogar der "Cerro Torre" zeigt. Ein seltenes Vergnügen, er soll so gut wie immer verborgen sein. Selbst an diesem herrlichen Tag präsentiert er sich immer nur minutenweise, um dann gleich wieder zu verschwinden.
Der Cerro Torre mit seiner berühmten Eiskappe. Unter Bergsteigern gilt der über 3.000 m hohe Berg mit seinen steil aufragenden, glatten Granitwänden und dem vereisten oberen Bereich als einer der schwierigsten und zugleich schönsten Gipfel der Welt.
Es ist nicht sehr weit bis zum zweiten Aussichtspunkt. Der "Mirador Aguilas" eröffnet den Blick wie von einem natürlichen Balkon in die entgegengesetzte Richtung. Der Gegensatz könnte krasser nicht sein, doch auch die Aussicht auf das karge Umland, den Lago Viedma und die grünen Berge besitzt einen ganz eigenen Reiz.
Es ist ein perfekter Start in El Chalten und wir hoffen, dass das Wetter auch in den nächsten Tagen einigermaßen durchhält.
Meinem Bein geht es besser, die Wanderpumps stehen bereit - am nächsten Tag steht die erste längere Tour auf dem Programm.