2. Akt: Die steigende Handlung
Die Hyänen haben im Flusstal Aufstellung genommen. Sie bilden drei kleine Untergruppen, einzelne Tiere verweilen dabei am Rand des Geschehens, um wohl zu den Seiten hin abzusichern. Der Löwe zieht derweil den Riss weiter in den Schutz der Büsche. Das Spiel beginnt Fahrt aufzunehmen.
Die drei Hauptgruppen verteilen sich nun im Abstand von etwa 10 bis 15 Metern um den Löwen und seinen Gnuriss. Der so entstehende Kreis wird ab jetzt regelmäßig von verschiedenen Seiten verengt und sofort wieder erweitert, wenn der Löwe zum Angriff ansetzt und mit Prankenhieben droht. Ständig hört man das aufgeregte Keckern der Hyänen. Alle vier sind wir ganz gebannt und starren aus den offenen Fenstern hinunter ins Flusstal. Immer wieder stoßen Hyänen vor, immer wieder setzt sich der Löwe zur Wehr. Dabei achten die Hyänen darauf, dem Widersacher bloß nicht zu nahe zu kommen. Jetzt und hier geht es darum zu ärgern, zu ermüden.
3. Akt: Der Höhepunkt
So geht es über einen längeren Zeitraum weiter. Die Hyänen foppen den Löwen, der sich bald aufmacht, weiter am Riss zu fressen. Es scheint uns so, dass er, bevor er in Gefahr kommt zu verlieren, die kläglichen Gnureste noch schnell selbst vertilgen will. Da er dabei weitestgehend von Buschwerk verdeckt ist, können wir sein Resteessen nur erahnen.
Die Hyänen lassen sich nicht beirren und führen ihre Scheinangriffe in rascher Folge fort. Seine Aufmerksamkeit muss der Löwe auf mehrere Seiten richten, mal kommen die Hyänen vom Uferhang, mal stoßen sie aus dem Flussbett vor.
Dann plötzlich: Ein Moment der Unaufmerksamkeit des Löwen! Der Ausfall der Hyänen vom Flussbett her wird um einen Sekundenbruchteil verlängert und eine der Angreiferinnen verbeißt sich im Riss und zerrt ihn die Uferböschung herunter. Sofort stürzen sich weitere Tiere auf das tote Gnu und zwei Hyänen stellen sich dem Löwen in den Weg.
Der Riss wird bis ins Flussbett geschleift und dann beginnt das große Fressen. Fantastisch, jetzt ist der Blick unverstellt und wir sind recht nah dabei. Der Hyänenclan kommt zusammen. Wir können klar beobachten, dass die rangniederen Tiere auf Abstand gehalten werden. Immer wieder kommt es in der Hektik des schnellen Mahls zu Droh- und Unterwerfungsgesten.
Der Löwe derweil beobachtet seine Niederlage aus den Büschen heraus, dreht aber alsbald ab und entfernt sich aus unserem Blickfeld. Die Schlacht scheint geschlagen.
Wir sind ganz begeistert davon, jetzt die Hyänen bei ihrem Siegesbankett zu beobachten. Auch unsere Kinder stehen noch immer gebannt an den Fenstern. Immer wieder versuchen nun auch Schakale ihr Glück am Riss, jedoch weitgehend vergebens.
Auf dem Höhepunkt der Handlung eines klassischen Dramas erfolgt modellhaft aber schließlich die Peripetie, also der Umschwung des Glücks, und dieser wird hier eingeläutet durch einen mächtigen Löwenkater, der von rechts durch das Flussbett seinen Auftritt hat.
4. und 5. Akt: Die fallende Handlung und die Lösung des Konflikts
Die Hyänen beäugen den ankommenden Kontrahenten mit wachsender Aufmerksamkeit, das Fressen wird hektischer, dieses Mal sehen sie sich einem ausgewachsenen Kater gegenüber.
Auf eine direkte Konfrontation lassen sie es nicht ankommen – kaum ist der Löwe auf etwa 200 Meter an den Riss herangekommen, lassen sie von ihm ab und suchen ihr Heil in der Flucht.
Jetzt folgt als zentraler Baustein des vierten Aktes das retardierende Moment, die Verlangsamung des Handlungsausgangs. Es schlägt die Minute der Geier. Kaum haben sich die Hyänen panisch entfernt, lassen sie sich von den nahen Bäumen auf den Boden gleiten und stürzen sich nun ihrerseits auf die Rissreste. Auch die Schakale haben jetzt Oberwasser und können sich einige Brocken sichern.
Aber dieses Glück soll nicht lange halten. Sobald der Löwe in die Nähe des Risses kommt – und auf den letzten Metern beschleunigt er sehr – flattern die Geier davon und auch die Schakale ziehen sich flott an den Rand des Geschehens zurück.
Es kehrt Ruhe ein. Seine Majestät inspiziert das Gnu und beäugt misstrauisch die Umgebung.
Nach einer kurzen Weile wird der Sieg der Löwen zementiert: Ein weiterer prächtiger Löwenkater erscheint über der Uferböschung und steigt zu seinem Artgenossen herunter. Wow!
Zu zweit fressen sie nun in aller Ruhe an den Resten des Gnus. Freche Schakale werden dabei souverän in ihre Grenzen gewiesen.
Noch immer beobachten selbst die Kinder mit allergrößter Aufmerksamkeit. Die Dramaturgie dieser Sichtung hält sie in ihrem Bann, denn hier wird eine richtige Geschichte erzählt und das fesselt sie noch weit mehr als die Beobachtung eines ruhenden oder äsenden Tiers. Wir fühlen uns wie in einer Live-Tierdokumentation. Toll!
Als kleines Intermezzo marschiert nach einiger Zeit ein alter Elefantenbulle durch das Flussbett.
Unsere Aufmerksamkeit bleibt aber bei den Löwen, die nun anfangen, kräftig am Riss zu zerren. Ein neues spannendes Schauspiel entfaltet sich vor unseren Augen.
Irgendwann wird die Handlung aufgelöst, indem die beiden Löwen den kläglichen Gnuriss zum Sichern in die Büsche und damit aus unserem Blickfeld ziehen.
Auch die beiden Kater legen sich nun verdeckt zu Ruhe. Der Vorhang schließt sich. Wir klatschen innerlich Beifall.
Nachdem wir uns in unserem Auto für die Weiterfahrt organisiert haben, müssen wir uns auf dem schmalen Turnout durch so einige in den letzten knapp zwei Stunden dazugekommene Autos manövrieren. Das stellt sich als ziemlich komplexe Sache heraus. Diese Blechansammlung haben wir durch unsere Konzentration auf das Flussbett gar nicht registriert. Zum Glück.
Mit einer solch spannenden Sichtung hatten wir zu dieser Tageszeit niemals rechnen können. Hier spielt uns das trübe Wetter in die Karten – wäre es ein sonniger Tag gewesen, hätten wir die Löwen – wenn überhaupt – nur ruhend im Schatten der Bäume gesehen und der Angriff der Hyänen hätte bei dreißig Grad wahrscheinlich auch nicht stattgefunden. Ich will mir also Mühe geben und mich nicht mehr über die Wetterverhältnisse auf dieser Reise beschweren.
Glücklich setzen wir unseren Weg in Richtung Satara fort. Der Tag ist im Kasten. Was soll jetzt auch noch kommen?
Wird fortgesetzt.