Viva la Revolución
Marea del Portillo
Langsam komme ich wieder zu mir. Mein Körper fühlt sich wie betäubt an, als hätte man mir ein Anästhetikum verabreicht. Erst als ich mich auf alle Viere hochkämpfe, kommen die Schmerzen. Es brennt überall und höllisch. Am schlimmsten hat es meinen rechten Arm erwischt. Ein handtellergroßes Stück Haut ist wie weggeraspelt. Eine weitere tiefe Wunde ziert mein linkes Knie. Von Kinn und Lippen tropft es rot auf mein T-Shirt. Überall an den Händen sind kleinere und größere Schürfwunden.
Ein Campesino, der den Sturz beobachtet hat, kommt auf mich zugerannt. Schon von weitem ruft er:
„Ay Dios mio, que pasó, que pasó…“ (Oh mein Gott, was ist passiert, was ist passiert)
Zu dem Zeitpunkt muss ich ein erschreckendes Bild abgegeben haben. Ich hüpfe mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Straße herum, überall Blut, und dazu mein „Ay ay ay“ (Au Au Au) Geschrei. Mein Fahrrad liegt ein paar Meter entfernt am Straßenrand, ein Teil des Gepäcks ist im Gelände verstreut.
Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt habe, meint der Campesino, etwa einen Kilometer entfernt gäbe es ein Consultorio Medico (eine Art Miniklinik), und er würde mich dorthin bringen. Da ich noch zu benommen bin um etwas Sinnvolles zu tun, nimmt er mein Fahrrad und sammelt die verstreuten Gepäckstücke ein. Sogar der Hut von La Abuela aus Santiago ist dabei. Dann marschieren wir los. Er schiebt das Fahrrad, ich humple nebenher.
Tatsächlich habe ich Glück im Unglück, denn es ist nicht allzu weit bis zu dem Consultorio Medico. Auf der Veranda eines unscheinbaren, einstöckigen Gebäudes sitzen und stehen etwa 10 bis 12 Personen, hauptsächlich Frauen und Kinder. Als sie mich sehen, geht ein erschrecktes Murmeln durch die Wartenden. Eine Frau steht auf und bietet mir einen Platz auf einem Bänkchen an.
„Sientate! El medico viene pronto“ (Setz dich! Der Arzt kommt gleich) sagt sie.
Und dann:
„Que te pasó?“ „Un accidente?“ (Was ist mit dir passiert? Ein Unfall?)
Alle starren mich an, während ich antworte:
„Me caí con la bicicleta en la loma“ (Ich stürzte mit dem Fahrrad am Abhang)
Allgemeines Gemurmel:
„Ay, ay mi madre, que cosa, oye eso…“
Nach einer guten halben Stunde kommt der Arzt. Als Notfall darf ich als erster ins Untersuchungszimmer. Dort nimmt der Arzt zuerst meine Personalien auf, befragt mich nach dem Unfallhergang und notiert schließlich alles in Formularen.
Anschließend untersucht er mich auf innere Verletzungen und auf gebrochene Knochen. Zum Glück ist alles heil geblieben. Auch meine geplatzte Lippe muss nicht genäht werden. Er schreibt noch ein Rezept für ein Schmerzmittel auf, dann ist die Arbeit des Doktors getan.
Consultorio Medico
Zwei Enfermeras (Krankenschwestern) übernehmen die weitere Behandlung. Sie schrubben die verschmutzten Wunden mit Wasser und Kernseife aus. Zuerst die großen, dann die kleineren. Eine ziemlich schmerzhafte Prozedur. Jedes Mal, wenn ich aufstöhne, streichelt eine der Enfermeras mitleidig meine Schulter. Insgesamt zählen sie zwölf Schürfwunden. Zuletzt wird eine Salbe aufgetragen, Verbandsmaterial gibt es nicht. Ich soll morgen früh wiederkommen.
Die Behandlung ist kostenlos, was mich erstaunt. Zwar ist das kubanische Gesundheitssystem für Kubaner kostenlos, aber Ausländer werden in der Regel zur Kasse gebeten. Aber vielleicht ist das in dieser abgelegenen Ecke Kubas anders.
Mein Knie – Eine der zwölf Schürfwunden
Wer Blut sehen kann

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Als nächstes muss ich ein Zimmer suchen. Ich brauche dringend ein Bett und ein paar Stunden Ruhe. In Marea del Portrillo gibt es meines Wissens drei Casas Particulares. Eine davon ist die Casa Barbara. Der Vermieter betrachtet mich zuerst etwas verwundert, als ich in meiner blutverschmierten Kleidung und den offenen Wunden vor ihm stehe, aber nachdem ich ihm von meinem Unfall erzählt habe, bekomme ich ein nettes, kleines Zimmer mit Terrasse.
Ich lege mich sofort hin und versuche zu schlafen. Nachts wache ich immer wieder auf. Jedes Mal, wenn ich mich im Schlaf drehe und dabei mit meinen offenen Wunden etwas berühre, durchfährt mich heftiger Schmerz.
Die Casa Barbara verfügt sogar über einen Fitnessbereich, für mich momentan eher uninteressant…
Marea del Portrillo ist ein kleines Nest. Es gibt ein paar staubige Straßen, einen Dorfladen, ein oder zwei Restaurants und das Minikrankenhaus. Vielmehr kann ich nicht entdecken. Als ich am nächsten Tag in den kleinen Dorfladen komme um Wasser zu kaufen, höre ich eine Kundin zur Verkäuferin sagen:
„Mira, ese es el que cayó en la loma“ (Schau mal, das ist der, der am Hang gestürzt ist)
Diesen Satz höre ich in Marea del Portillo noch ein paar Male. Offenbar hat sich das Ereignis herumgesprochen und ich bin zu einer lokalen Berühmtheit geworden.
Die Verkäuferin mustert mich von oben bis unten und sagt dann:
„Ayayayayai“ (Ohjeohjeohje)
Campesinos
Während der nächsten zwei Tagen gehe ich jeweils morgens und abends zum Consultorio. Die Behandlungsprozedur wiederholt sich jedes Mal. Meine Wunden werden kräftig geschrubbt und mit Salbe eingestrichen. Verbandsmaterial gibt es nicht. Das hat den Vorteil, dass die Verletzungen an der frischen Luft besser heilen, aber den Nachteil, dass der Staub der Straße ungehindert eindringen kann und, was fast noch unangenehmer ist, ich muss ständig winzig kleine Fliegen abwehren, die sich durch das rohe Fleisch magisch angezogen fühlen.
Ostkuba - Zuckerrohrfelder
Am dritten Tag beschließe ich ins etwa 20 km entfernte Pilon weiter zu ziehen. Pilon hat ein größeres Krankenhaus und ich hoffe dort Verbandsmaterial zu bekommen. Als ich versuche mit dem Fahrrad zu fahren, merke ich sofort, dass ich das nicht packe. Es ist zu schmerzhaft. Bei jeder Bodenunebenheit könnte ich laut aufschreien. Und dann ist da noch der Schweiß, der in die Wunden läuft und höllisch brennt.
Mein Zimmervermieter besorgt einen uralten Lada mit Gepäckträger, der mich mitsamt Fahrrad nach Pilon bringt.