Ein toller Tag am Latrabjarg oder:
Der Tag, an dem Corona wiederkam
Wer in der richtigen Jahreszeit bis hierher noch keine Papageitaucher zu Gesicht bekommen hat, der wird am Latrabjarg reich entschädigt. Nirgendwo soll man so vielen putzigen Puffins so nah kommen können wie an diesen legendären Felsen, wo die Vögel nie bejagt worden und deswegen ohne Scheu sind. Soviel einmal mehr zur Theorie.
Wir tanken im Ort noch einmal voll, es ist an diesem Tag die einzige Gelegenheit, dann geht es vorbei am Wrack der Gardar BA 64, die 1912 in Norwegen für den Walfang erbaut und 1981 ausgemustert wurde. Seitdem rostet das älteste Stahlschiff Islands im Patreksjfördur vor sich hin.
Dann biegen ab auf die 612. Eine staubige Schotterpiste, wohl auch mit einem normalen PkW machbar, aber wir sind froh über Bodenfreiheit und ein paar PS mehr unter der Haube. Die Strecke über die Landzunge ist spektakulär, wir sind relativ früh dran und weit und breit die einzigen Menschen. Eine Gegend, die das Adjektiv "abgeschieden" auch wirklich verdient.
Die Straße ins gefühlte Nirgendwo endet an einem Parkplatz am Leuchtturm Bjargtanga. Nur wenige Meter sind es noch zu den Klippen, die den westlichsten Punkt Islands und damit Europas markieren. Ein ebenso imposanter wie schwindelerregender Anblick, bis zu 450 Meter geht es vertikal in die Tiefe. Für die jungen Puffins bedeutet das einen gewagten Start ins Leben: Verlassen sie im Spätsommer das Nest, muss der erste Flugversuch hinunter zum Meer auf Anhieb klappen.
14 Kilometer sind die Klippen lang, doch die meisten Puffins nisten kundenorientiert direkt in Parkplatznähe.
Etagenwohnung
Es sind allerdings längst nicht so viele, wie wir erwartet hätten. Die Sandaale, Leib- und Magenspeise der Puffins, seien in diesem Jahr an dieser Stelle der Insel nicht so zahlreich wie gewohnt, erklärt uns ein anderer Besucher. Ob das stimmt, weiß ich nicht.
Die anderen Apartments auf den schmalen Felsvorsprüngen, die oft nur eine Handbreit von der Tiefe trennt, sind dagegen restlos ausgebucht. Trottellummen, Eissturmvögel, Dreizehenmöwen und Kormorane veranstalten ein Heidenspektakel.
Wir steigen höher und höher und der Blick wird wunderbar weit, als sich der morgendliche Dunst verzieht. Wir legen uns ins Gras und robben auf dem Bauch näher an die Kante heran, um das Gewicht auf dem unterhöhlten Grund zu verteilen, abends wieder keine Zecken, ein Glück.
Je weiter wir gehen, desto weniger Papageitaucher sehen wir. Dafür zum zweiten Mal nach der Premiere in Schottland die mit den Puffins verwandten Razorbills. Eine schöne Überraschung! Weit aufgesperrt, soll der kräftige, lackschwarze Schnabel vorbeifliegende Möwen verscheuchen, die Räuber sind allgegenwärtig und allzeit bereit. Mich erinnert er an Lakritze.
Wir schlendern zurück in Richtung Parkplatz, hügelabwärts, ein herrlicher Tag und jetzt auch mit Sonnenschein.
Die beste Methode, um Puffins zu betrachten: einfach geduldig stehenbleiben oder ins Gras setzen, keinesfalls proaktiv und zu nah auf die Vögel zugehen. Sie kehren immer wieder zu ihren Bruthöhlen zurück und turnen dann angstfrei und ungestört direkt vor den Augen ihrer Beobachter herum.
Manch einem reicht das leider nicht. Die Isländer bemühen sich redlich, die Laufwege der Touristen in vernünftige Bahnen zu lenken. Mit dezenten Seilen und Hinweisschildern zum Schutz der Natur und manchmal auch dem der Besucher selbst. In diesem Fall für beides. Die Klippen sind am Rand unterhöhlt und brüchig, es sollen schon ganze Abschnitte abgebrochen und Menschen in den Tod gestürzt sein. Bloß gut, dass Mutti das Töchterlein festhält, auch die Schwimmweste hat sie schon vorsorglich an. Na dann...
Ich habe nicht mitbekommen, was sich in meinem Rücken abspielt; bin kein Moralapostel und nicht verantwortlich für anderer Leute Schicksal. Aber ich hätte dieses Verhalten keinesfalls unkommentiert gelassen. Nie sind uns ignorante, verantwortungslose und gefährliche Regelverletzungen so massiv begegnet wie auf Island. 2019 viel mehr noch als in diesem Jahr, denn die Einheimischen benehmen sich besser als viele der ausländischen Gäste, die offenbar mit Vehemenz daran arbeiten, dass immer mehr Verbote nötig werden. Auch diese Eindrücke gehören leider zu einer Reise ins Naturparadies Island.
Die Rückfahrt über die 612 ist grandios, der Blick über die Grönlandsee phantastisch.
Rund um Latrabjarg finden sich einige der schönsten Strände Islands. Nicht schwarz wie sonst üblich auf der Insel, sondern schneeweiß und unberührt, ein Traum.
In der Sonne entfaltet die Landschaft ihre ganze (Farben-)Pracht. Wir brauchen eine gefühlte Ewigkeit für die 60 Kilometer zurück nach Patreksfjördur; was aber natürlich auch egal ist
.
Blick nach Patreksfjördur
Zurück im Ort ergattern wir in einem kleinen Cafe die letzten beiden Plätze, es ist voll und gemütlich und Corona wie immer in den vergangenen Wochen ganz weit weg. Stimmengewirr und Gelächter, das Leben ist normal und schön, zumindest für diesen Moment. Dass es sich schon sehr bald wieder ändert, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Gegen Abend starten wir den zweiten Versuch am Raudisandur (=Roter Sand) Strand am südlichsten Zipfel der Westfjorde. Drumherum war an diesem Tag Sonne, doch in der Bucht hängen weiterhin die Wolken fest. Wie schade.
Im Hintergrund die Steilküste von Latrabjarg
Die Camper sind schon wieder im Grillmodus, und während Thomas zum Aussichtpunkt marschiert, mache ich einen einsamen Spaziergang am weiten Sandstrand, der je nach Lichteinfall orange, gelb, tiefrot und manchmal sogar pink erscheint.
Im Moment ist er eher matt apricotfarben, ich halte angestrengt Ausschau nach einem Fleckchen blau, das der Wind hinübertreiben könnte, doch vergebens.
Mir entgeht dabei, dass zwar keine blaue Stelle naht, aber der Himmel zusehends aufklart.
Plötzlich bricht die Sonne durch, wie aus dem Nichts. Um mich herum leuchtet der Strand. Wir können es kaum glauben, eine ungeahnte Metamorphose binnen weniger Minuten und ein toller Anblick!
Rund eine Stunde gewährt die Sonne eine Audienz, dann zieht sich der Himmel langsam wieder zu.
Zurück am Hotel gibt es noch einen schönen Sonnenuntergang und Veränderungen. Ein Zettel auf dem Bett, wir sollen zur Rezeption kommen wegen neuer Corona-Maßnahmen. Wie zeitliche Slots beim Frühstück zum Beispiel, weil (wieder) mehr Abstand gefordert ist. Die Normalität, sie war nur ein Traum, banal und dennoch intensiv. Nun hat uns die Realität zumindest ein Stück weit wieder.