THEMA: Reisebericht Sierra Leone
31 Mär 2013 11:00 #283110
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Teil 7 ...

Am nächsten Morgen fahre ich nach Aberdeen. Der mir entgegenkommende Verkehr ist fast zum Erliegen gekommen. Die Autos bewegen sich kaum von der Stelle. Ich habe den Eindruck, dass viele Autofahrer gerne mit mir tauschen würden, als sie sehen, wie ich fröhlich vor mich hinradle.
In Aberdeen quatscht mich jemand an, den ich schon in der Stadt gesehen habe. Ich kann mich zwar nicht erinnern, aber er kennt tatsächlich meine Mailadresse. Ich habe einfach mit zu vielen Leuten gesprochen, als dass ich mich an jeden einzelnen erinnern könnte. Leider habe ich auch nach unserem erneuten Treffen seinen Namen vergessen.

Er erzählt mir, dass seine Mutter während oder kurz nach seiner Geburt starb. Sein Vater wurde während des Bürgerkriegs mit Macheten ermordet, als er 11 Jahre alt war. Er verwendet dabei das Wort "geschlachtet/abgeschlachtet", während er davon erzählt. Er selbst konnte flüchten, aber es wurde mit Gewehren auf ihn geschossen. Ein Streifschuss erwischte ihn am Nacken. Die Narbe ist mehrere Zentimeter lang.
Er freut sich wie ein kleines Kind, als er seinen Heimatort auf meiner Landkarte findet. Er liegt im Osten nahe der Grenze zu Liberia. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit einem winzigen Laden, der kaum breiter ist als die Tür. Die Öffnungen daneben gehören schon zu den angrenzenden Shops.


Es dauert keine 10 Sekunden, bis er auf diesem Baum steht.


In Aberdeen suche ich nach einer Unterkunft, aber entweder sind sie sehr teuer oder einfach schlecht. Ich fahre weiter in Richtung Lumley am Strand entlang. Hier gibt es mehrere Hotels und Unterkünfte, aber unter 90 US$ pro Nacht geht da nichts. Ein Hohn für die Einheimischen, die hier mit 30 Euro einen ganzen Monat überleben müssen.
An einer Unterkunft frage ich gerade nach, als mir zwei junge Männer bettelnd entgegenkommen. Sie brauchten Geld für Medikamente, sagen sie. Die Hand des einen ist dick angeschwollen und ein Finger ist offen. Ich wimmele sie ab und antworte, dass ich mir zunächst eine Bleibe für die Nacht suchen muss. Das gelingt mir später dann in Lumley auch zu einem vernünftigen Preis. Das Zimmer hier ist ganz ok und groß.


Das Preisschild in der Unterkunft lässt eine gewisse Geräuschentwicklung befürchten, aber ich irre mich.


Am nächsten Tag sehe ich die beiden wieder und die Hand sieht wirklich nicht gut aus, irgendwie wie aufgeblasen. Der verletzte Finger ist doppelt so dick wie die anderen und farblich passt er auch schon nicht mehr ganz dazu. Ich sage dem Verletzten, dass er in ein Krankenhaus gehen soll und er antwortet, dass er das schon versucht hat und die 15.000 Leones (< 3 Euro) für die Untersuchung nicht bezahlen konnte. Dabei muss er fast weinen. Da stehe ich nun. Auf der einen Seite unterstütze ich Bettelei nicht sehr (Ausnahmen wie Behinderte ausgenommen) und weiß, dass es das Problem oft noch verstärkt, aber hier geht es um ein offensichtliches gesundheitliches Problem und der junge Mann wird hier vielleicht seinen Finger, die ganze Hand oder noch mehr verlieren können. Ich gebe ihm also kein Geld, sondern gehe mit ihm zum nächsten Krankenhaus. Dort freue ich mich erst einmal, dass ich nicht selbst zur Behandlung dort bin, aber immerhin sind die Spritzen steril verpackt.

Ich bezahle die erste Untersuchung durch den Arzt und bin auch bei der Untersuchung und Behandlung dabei, die definitiv schmerzhaft ist. Er muss auch in den nächsten 5 Tagen täglich zur Behandlung, die nächsten 2 Wochen alle 3 Tage zum Kontrollbesuch zum Arzt, braucht Tabletten und Spritzen. Danach -so hofft man- wäre es wieder ok. Ich bezahle die komplette weitere Behandlung im Krankenhaus vorab für die nächsten zwei Wochen. Es kostet mich insgesamt keine 20 Euro. Mehr kann ich wohl nicht tun, weniger aber auch nicht. Mein Gewissen würde mich wahrscheinlich nicht mehr schlafen lassen. Wegen 20 Euro hätte der junge Mann hier in Kürze vielleicht seine Hand verloren.

Zwei Tage später treffe ich den Verletzten wieder. Seine Hand sieht schon deutlich besser aus. Er bedankt sich überschwenglich für meine Hilfe und ich spüre, dass ihm diese Situation auch nicht angenehm ist. Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass ich an der richtigen Stelle eine Ausnahme gemacht habe, was die Reaktion auf Bettelei angeht.

Gruß
Wolfgang
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Letzte Änderung: 20 Jul 2013 13:20 von BikeAfrica.
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31 Mär 2013 11:24 #283115
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Hoi Wolfgang
BikeAfrica schrieb:
Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass ich an der richtigen Stelle eine Ausnahme gemacht habe, was die Reaktion auf Bettelei angeht.
Definitiv!!!
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01 Apr 2013 17:05 #283247
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Hallo Wolfgang,

ich finde du hast absolut richtig gehandelt !!!
Bin mir aber auch sicher, dass das nicht jeder gemacht hätte, zumal du ja auch noch die "Umstände" auf dich genommen hast, ihn ins Krankenhaus zu begleiten.
Respekt.

Liebe Grüße
Dagmar
Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.

Zu den Reiseberichten:
www.namibia-forum.ch...n-afrika.html#471572
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01 Apr 2013 18:30 #283255
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Teil 8 ...

Der Strand zwischen Aberdeen und Lumley ist 3-4 km lang. Hier ist während der Woche absolut nichts los.


Am Wochenende jedoch reiht sich vormittags ein provisorisches Fußballfeld an das nächste. Am Sonntagnachmittag ab ca. 16:30 Uhr trainiert hier auch der Amputee Soccer Club. Zufällig hatte ich ein paar Tage zuvor einen Spieler kennengelernt, der auch schon bei Weltmeisterschaften gespielt hat. Er war später auch der auffälligste Spieler auf dem Feld.

Hier spielen Kriegsversehrte, die durch Minen ein Bein verloren haben. Der Torwart ist der einzige Spieler mit zwei Beinen, aber dieser hat nur einen Arm. Wer nun denkt, dass ein solches Spiel an eine Altherrenveranstaltung erinnert, täuscht sich gewaltig. Die Spieler sind unglaublich fit. Die Krücken sinken bei jedem Schritt bis zur Oberkante des Gummistopfens ein, aber die Spieler sind durch einen Zwischenschritt auf dem verbliebenen Bein fast so schnell wie zweibeinige Spieler und es geht richtig zur Sache. Da wird reingegrätscht wie bei einem normalen Fußballspiel. Nach nicht einmal 10 Minuten ist in einem fairen Zweikampf die erste Krücke zerbrochen. Vor dem Spiel stehen alle Spieler in einem Halbkreis um den Präsidenten und es gibt eine kleine Zeremonie mit einem Lied und einer Art Gebet, um an die Opfer des Bürgerkriegs zu denken.

Wer diesen Krieg überlebt und ein Bein verloren hat und dennoch Sport treibt, der hat sein Leben wohl wieder einigermaßen im Griff. Viele haben das sicherlich nicht mehr geschafft. Besonders diejenigen mit abgehackten Armen können den Rest ihres Lebens nicht mehr ohne fremde Hilfe auskommen. Der Bürgerkrieg in Sierra Leone war von üblen Dingen überschattet. die Rebellen der RUF wollten gegen die Regierung vorgehen, kämpften de fakto aber gegen die Zivilbevölkerung, um Druck auf die Regierung auszuüben. Oft wurden ganze Dörfer überfallen und die Menschen ermordet. Zehntausenden wurden die Arme mit Macheten abgehackt. Gelegentlich sieht man die verstümmelten Menschen im Getümmel auf den Straßen. Diese grausammen Taten und das ansonsten so friedlich scheinende Land passen nur schwer zusammen.

Vom Fussballspiel habe ich keine Fotos gemacht, aber ich verlinke mal drei Videos vom gleichen Schauplatz. Da kommen auch noch einige Infos über das Land mit.

Gruß
Wolfgang





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01 Apr 2013 19:43 #283261
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Beeindruckend, diese Männer.

Diese Videos erinnern mich mal wieder daran, dass wir in Deutschland seit über 65 Jahren ohne Krieg leben dürfen.

LG
Lisolu
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01 Apr 2013 20:33 #283269
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... als ich dort war, war sogar eine junge Frau mit dabei. Die war allerdings noch recht neu bei dem Sport und lernte erst noch. Beim Trainigsspiel hat sie dann entweder daneben gesessen oder mit einem anderen Spieler hinter dem Tor hin und her gekickt.
Gerade bei dieser Anfängerin hat man dann im Vergleich gemerkt, was da an Kraft, Kondition und Geschicklichkeit dazugehört.
Beschwerlich ist aber auch die Anfahrt zum Strand. Die meisten wohnen soweit entfernt, dass sie mit dem Taxi kommen. Eine Taxifahrt kostet dort nicht allzu viel, aber für die Amputierten, die es ja noch schwerer haben, einen Job zu finden, ist auch das viel Geld.

Mit dem Mann, der zu Beginn des ersten Videos seine Geschichte erzählt, habe ich 'ne Weile gesprochen. Es gibt kaum Sponsoren für den Sport. Sierra Leone hat schon öfter beim Africa Cup oder bei Weltmeisterschaften teilgenommen, aber jedes Mal ist die Teilnahme aus finanziellen Gründen fraglich. Beim Africa Cup kam es schon vor, dass die Hälfte der ursprünglich vorgesehenen Teams aus finanziellen Gründen nicht anreisen konnten.

Gruß
Wolfgang
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