THEMA: Reisebericht Sierra Leone
02 Apr 2013 20:11 #283400
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  • BikeAfrica am 02 Apr 2013 20:11
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picco schrieb:
Hoi Wolfgang
BikeAfrica schrieb:
Vielleicht nehme ich das zum Anlass, mir mal meine Tagebücher aus Zambia/Zimbabwe und Gambia/Senegal/Guinea-Bissau vorzunehmen und darüber auch was zu pinseln.
:blink: Was heisst hier 'vieleicht'???? :blink:
Los, hopp, mach!!! :woohoo: :evil: B) :whistle:

... na eins nach dem andern. ;)

Hier erst mal der nächste Teil ...


Irgendwo in Lumley (habe dort etwa 'ne Woche verbracht und daher die Häufung der Erlebnisse dort) kommt mir gegen Abend jemand entgegen und sagt im Vorbeigehen "Hallo", wie es häufig üblich ist. Ich antworte und drehe mich drei Meter später um. Zufällig dreht er sich auch um und wir kommen ins Gespräch. Anders als die meisten Leute im Land, die kleiner sind als ich, ist er einen halben Kopf größer und recht muskulös. Er ist Boxer und kommt vom Konditionstraining am Strand, wo er im weichen Sand Sprinttraining macht.
Nach einem kurzen Gespräch fragt er mich, wohin ich gehe. Ich sage ihm, dass ich in die Strandbar gehe und er sagt, er müsse erst nach Hause und komme dann nach. Er würde sich gerne mit mir unterhalten. Nach einer Weile kommt er tatsächlich wieder und wir unterhalten uns ca. eine Stunde. Er erzählt, dass er in einem Projekt für ehemalige Kindersoldaten mitarbeitet.

Hier mal die Strandbar in der Nähe meiner Unterkunft. Hier habe ich die Tage ausklingen lassen ...


Zwei Tage später treffe ich ihn wieder. Er fragt mich, ob ich ihn begleiten wolle. Er habe den ehemaligen Kindersoldaten von mir erzählt und sie wären interessiert, mich kennenzulernen. Ich komme mit ihm mit und gebe etwa 20 jungen Männern die Hand. Wohl die meisten von ihnen haben schon Menschen getötet oder waren zumindest dabei.

Sie sind sehr freundlich und sehr interessiert und man merkt ihnen ihre Vergangenheit zunächst nicht an. Sie fragen mich nach den Lebensumständen in Deutschland und erzählen von ihren. Ihre Dörfer wurden überfallen und sie als kleine Kinder oder Jugendliche verschleppt. Um selbst zu überleben, mussten sie manchmal ihre eigenen Familienangehörigen töten. Man hat sie mit Drogen vollgepumpt, um sie zu manipulieren. Sie haben schlimme Dinge getan, um ihren eigenen Tod zu verhindern.

Nach dem Krieg ging die schwere Zeit jedoch weiter. Mal abgesehen von der Verarbeitung der eigenen Erlebnisse und dem Verlust von Eltern und Geschwistern wollten sie die Menschen in ihren Dörfern nicht mehr bei sich haben. Sie hatten Angst vor ihnen, die ja oft ihre eigenen Verwandten und Nachbarn getötet hatten. Also waren die meisten völlig entwurzelt und auf sich selbst gestellt. Dazu kommt, dass sie ihre Kindheit im Krieg verbracht haben, demnach auch keine Schulbildung haben und kaum eine Chance auf einen Job haben.

Sie leben nun in einer Gruppe von Menschen, die das gleiche Schicksal durchlebt haben. Ihren Unterhalt verdienen sie mit dem Waschen von Autos. Sie leben in wenigen Blechhütten unter einfachsten Bedingungen. Einige von ihnen müssen im Freien schlafen, weil es in den Hütten nicht genug Platz gibt. Das Ganze spielt sich nicht einmal 50 Meter entfernt von der Hauptstraße ab. Die Folgen des Bürgerkrieges sind auch nach seinem Ende langwierig ...

Falls sich jemand mit dem Thema "Kindersoldaten" näher beschäftigen will, kann ich den Film "Lost Children" (gabs vor Jahren mal kostenlos von der Caritas) empfehlen. Ich habe ihn bei Youtube in Einzelteilen gefunden und verlinke den mal hier. Da gehts zwar nicht um die RUF in Sierra Leone, sondern um die LRA in Uganda, aber das spielt keine große Rolle. Ist überall die gleiche Situation.
Ich gehe davon aus, dass es sich einige nicht bis zum Schluss anschauen können. Und schaut es nicht gerade beim Essen an ...

Gruß
Wolfgang







nicht öffentlich sichtbar - funktioniert evtl. nicht:




Mit dem Fahrrad unterwegs in Namibia, Zambia, Zimbabwe, Malawi, Tanzania, Kenya, Uganda, Kamerun, Ghana, Guinea-Bissau, Senegal, Gambia, Sierra Leone, Rwanda, Südafrika, Eswatini (Swaziland), Jordanien, Thailand, Surinam, Französisch-Guyana, Alaska, Canada, Neuseeland, Europa ...
Letzte Änderung: 20 Jul 2013 13:22 von BikeAfrica.
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04 Apr 2013 22:01 #283877
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... Letzter Teil ...

Nach dem Besuch der Strandregion komme ich zurück nach Freetown. Emerson (der Poliokranke) freut sich, dass ich noch gesund und in einem Stück zurückgekommen bin. Vier andere Leute begrüßen mich an diesem Tag in der Stadt mit Namen (und der ist für die Leute dort oft schwerer auszusprechen als für mich der ihre). Irgendwie kennt man den weißen Radfahrer jetzt langsam bereits. Die Kinder in der Nachbarschaft meiner Unterkunft (die vom letzten Zwischenstopp in Freetown) springen fröhlich um mich herum und ziehen mich an den Händen mit nach Hause.

Am Abend besuche ich wieder mal eine Kirche, da ich auf dem Heimweg laute Musik vernehme. Die Menschen tanzen in der Kirche und die Musik ist fast so laut wie in einer Disco. Zwischendurch wird die Musik leiser bzw. verstummt und ein Pfarrer spricht. Dann folgt wieder laute Musik und Tanz. Kirche ist hier gleichzeitig Nachdenken und Unterhaltung.

Am nächsten Tag geht es durch die Stadt zur Fähre, um nach Lungi zum internationalen Flughafen zu kommen. Dort finde ich ein einfaches Guesthouse wenige Fußminuten entfernt vom Flughafen. Die beiden Hotels hier in der Nähe rufen 150 US$ für die Übernachtung auf.
Ich schaue mich im Dorf um, denn mehr als ein Dorf ist das hier nicht. Das bedeutet gleichzeitig, dass ich viel Zeit habe, um auf Erich Kästners Spuren zu wandeln (Toren besuchen in fremden Ländern die Museen. Weise gehen in die Tavernen). Ich will unbedingt noch ein Foto einer Dose des aus Deutschland importierten "Cody's" machen (Foto weiter vorne im Bericht). Ich muss mehrere davon bestellen, bis mich das äußere Aussehen einer Dose endlich zufriedenstellt und für ein Foto geeignet erscheint. Außerdem besorge ich mir als Packmaterial drei Carlsberg-Kartons (nein, den Inhalt habe ich nicht gesoffen), in denen deren Bierdosen an Geschäfte und Kneipen verkauft werden. Dann gehe ich in die Unterkunft und packe ein bisschen Gepäck für den Flug.

Am nächsten Tag laufe ich noch ein wenig umher und versuche dann, in irgendwelchen Kneipen vielleicht noch ein besseres Foto einer Bierdose zu machen, aber so viel ich auch trinke ... besser wirds nicht. Ich lerne aber einige Einheimische kennen und habe einen interessanten Tag. Am frühen Abend dusche ich nochmal in der Unterkunft und gehe in der Dämmerung, das Fahrrad schiebend (Pedale sind schon abmontiert und Fahrrad gewaschen) zum Flughafen. Ein Mitarbeiter des Guesthouses begleitet mich und verabschiedet sich, als wir am Flughafengebäude sind. Von irgendwo kommt ein ca. 25jähriger Einheimischer und hilft mir, das Fahrrad mit den Kartons, Kabelbindern und Klebeband halbwegs vernünftig zu verpacken. Meine Packtaschen kommen mit Ausnahme des Handgepäcks in einen Nylonsack. Jetzt ist es etwa 20 Uhr und dunkel. Check-In beginnt um 3 Uhr morgens.

Die Flughafenhalle ist komplett menschenleer. Vor dem Eingang sitzen zwei Sicherheitskräfte. Ich lehne mein Fahrrad und mein Gepäck an einen Metalltisch im Inneren der Halle. Mitsamt dem Handgepäck gehe ich mit dem Einheimischen ins Dorf und wir lassen uns an einer Bretterbude auf Stühlen nieder. Ich gebe ihm eine Cola aus und versuche es mit Carlsberg (Cody's macht anscheinend müde). Wir reden bis ca. 24 Uhr und dann werde ich langsam zu müde und gehe mit ihm zurück zum Flughafen, wo er sich verabschiedet. Dafür begrüßt mich ein Flughafenmitarbeiter von der Gepäckabfertigung (wieder mit Namen), den ich während meiner kurzen Zeit in Lungi irgendwo kennengelernt habe (vielleicht wurde mein Fahrrad deshalb so sorgsam verladen). Ich muss gestehen, dass ich mich in den seltentsten Fällen an die Namen meiner Gegenüber erinnern kann und manchmal nicht einmal ans Gesicht. Ich lernte während der Reise einfach zu viele Menschen kennen und schüttelte an manchen Tagen Dutzenden die Hände.

In der Halle sind jetzt vielleicht 15 Leute, die auch auf den Flug warten. Ich mache mich auf einer Bank lang und schlafe ein bisschen. So gegen 2:30 Uhr werde ich wieder wach. Jetzt ist mehr Betrieb. Man hat einen Teil des Bereichs vor dem Check-In-Schalter abgesperrt und mein Rad samt Gepäck steht dort. Langsam kommt Leben in die Bude.

Als die Check-In Schalter besetzt werden und der offensichtliche Chef der Schicht in Sicht kommt, frage ich ihn, ob ich mein Fahrrad und das Gepäck jetzt wieder hinter die Absperrung bugsieren und mich anstellen soll, aber er meint, ich solle ihm seinen Pass zeigen und dann mit meinem Geraffel gleich zum Schalter gehen. Das ist prima. So halte ich niemanden auf und bin sogar vor den beiden Rollstuhlfahrern als Erster am Schalter, bevor die Absperrung überhaupt geöffnet ist. Er fragt mich nur noch, ob ich die Luft aus den Reifen gelassen habe. Ich versichere ihm, dass ich den Luftdruck soweit abgelassen habe, dass weder dem Fahrrad noch dem Flugzeug etwas passieren könne und damit ist er zufrieden.

Am Check-In-Schalter bekomme ich meinen Boarding-Pass, der auf unbedrucktem Karton vollständig per Hand geschrieben wird. Den Boarding-Pass für den knappen Anschlussflug in Casablanca bekomme ich natürlich nicht. Dann noch an einem Sicherheitskontrolleur vorbei, der mich offen fragt, ob ich etwas Geld für ihn habe, damit er sich am Abend ein Bier kaufen kann. Als ich verneine, fragt er nochmal nach. Ich sage ihm, dass ich alles ausgegeben habe, weil ich es ja nicht mehr brauche (stimmt nicht ganz, weil ich ja immer Scheine als Erinnerung behalte und sammle bzw. als Lesezeichen für Bücher verwende). Daraufhin fragt er mich, ob ich ihm sonst etwas geben könne. Ziemlich dreiste Masche, aber offenbar oft genug erfolgreich. Diesmal nicht. Im Flugzeug herrscht freie Sitzwahl, damit man das Land noch einmal von seiner chaotischen Seite sieht.

In Casablanca betrete ich das Flughafengebäude 25 Minuten vor Abflug nach Frankfurt. An den langen Schlangen vor den Schaltern zur Ausstellung eines Boarding-Passes und der Sicherheitskontrolle schleust man mich jeweils vorbei nach vorne. Ich muss die ganze Abflughalle entlang zum Flugsteig 31, dem vorletzten. Kurz vor Ende des Boarding gelange ich ins Flugzeug. Anders als in Sierra Leone, wo ich mit kurzen Hosen und T-Shirt nicht auffiel, tragen hier die Leute alle Winterjacken und verstopfen damit rücksichtslos die Gepäckfächer. ;-)
Wenn sowas jeder machen würde ...

Nach einem nach meinem Empfinden ruhigen Flug (ok, vielleicht habe ich andere Fluggäste durch Schnarchen gestört?) komme ich in Frankfurt an. Als ich das Gepäckband erreiche, steht mein Fahrrad schon daneben (kommt sonst immer als ziemlich letztes Gepäckstück). Gleich danach läuft mein Nylonsack über das Förderband. Als Erster verlasse ich die Ankunftshalle, wo mich schon der Fahrer des Flughafenshuttles erwartet. Wir verlassen das Gebäude, wo ich bei 3 Grad Außentemperatur in kurzen Hosen, T-Shirt und Sandalen erstmals nach vier Wochen endlich wieder zu schwitzen aufhöre.
Endlich wieder Aussicht auf Schnee ... ;-)


So, das wars erstmal aus Sierra Leone.
Wenn ich mein Tagebuch von Gambia bis Guinea-Bissau in die Finger bekomme, gibts wieder 'nen Bericht, wenn auch von einer lange zurückliegenden Tour. Soviel sei aber schon mal verraten: Für Guinea-Bissau hatte ich nicht mal 'ne Landkarte und dass gerade ein Militärputsch passierte und das Auswärtige Amt eine Reisewarnung rausgab, während ich schon in Gambia und Senegal unterwegs war, bekam ich gar nicht mit.

Gruß
Wolfgang


Was hier jetzt noch fehlt, ist das Foto von den Öllampen für Janet und das kurze Fazit am Schluss. Ist nicht vergessen - kommt noch ...
Mit dem Fahrrad unterwegs in Namibia, Zambia, Zimbabwe, Malawi, Tanzania, Kenya, Uganda, Kamerun, Ghana, Guinea-Bissau, Senegal, Gambia, Sierra Leone, Rwanda, Südafrika, Eswatini (Swaziland), Jordanien, Thailand, Surinam, Französisch-Guyana, Alaska, Canada, Neuseeland, Europa ...
Letzte Änderung: 20 Jul 2013 13:22 von BikeAfrica.
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